Byung-Chul Han hat 2021 einen Essay veröffentlicht, der allen, die sich mit Manufakturen, Kunsthandwerk und besonderen Dingen beschäftigen, ans Herz gelegt sein sollte – „Undinge – Umbrüche in der Lebenswelt“. Wie immer, wenn man einen neuen Byung-Chul Han zur Hand nimmt, weiß der Leser, was er bekommt: eine flockige Durchleuchtung der Mechanismen des Neoliberalismus. So war es bei der Müdigkeitsgesellschaft (2010), der Transparenzgesellschaft und Agonie des Eros (2012) oder Rituale (2019). Der Berliner Philosoph trägt nichts grundlegend Neues in die Welt – mehr eine Zusammenfassung von Stimmungen und latentem Wissen, das ein jeder, der zur sensiblen Zeitgenossenschaft fähig ist, jeden Tag selbst erspürt. Dennoch: Byung-Chul Han, den die spanische Zeitung El Pais den meistgelesenen deutschen Philosophen nennt, schafft es, seine Gedanken in sprachmelodiöse Kunstwerke zu formatieren, die eine eigene ästhetische Qualität aufweisen. Darin ähnelt er Peter Sloterdijk. Während Sloterdijk zum kreativen Wort-Neuschöpfer wird, der sich spielerisch-poetisch-nomadisch in seine eigenen Begriffskreationen verzäuselt bis man als Leser den Faden des Plots verloren hat, ihn aber auch nicht vermisst, geht Byung-Chul Han den gegenteiligen Weg. Er schafft Klarheit. Mit seinem (an Thomas Bernhard erinnernden) mäandernden Stil entwickelt er stets eine eingängige These, die im Folgesatz wiederholt wird, dann von einer anderen Seite von hinten gepackt und erneut so oft wiederholt wird bis sie so ausgeleuchtet ist wie das Olympiastadium unter Flutlicht.
„Undinge“ dreht sich hauptsächlich um die Entmaterialisierung unserer Lebenswelt. Schon vor Jahrzehnten stellte der Medientheoretiker Vilém Flusser fest: »Undinge dringen gegenwärtig von allen Seiten in unsere Umwelt, und sie verdrängen die Dinge. Man nennt diese Undinge Informationen.« Die Dinge rücken heute immer mehr in den Hintergrund der Aufmerksamkeit. Die Welt als Infosphäre überlagert die Welt als Dingsphäre. Der Übergang vom Ding zum Unding verändert massiv unsere Wahrnehmung und Weltbeziehung.
Byung-Chul Hans Essay kreist um diese Dinge und Undinge. Er entwickelt sowohl eine Philosophie des Smartphones als auch eine Kritik der Künstlichen Intelligenz aus ungewohnter Perspektive. Gleichzeitig wendet er sich der Magie der Dinge zu und reflektiert über die Stille, die im Informationslärm verlorengeht. Spannend wird der Essay an der Stelle, an der Byung-Chul erläutert, wie wir uns von den Informationen leiten und beeinflussen lassen und wie das Smartphone geradezu zum Symbol (und Fessel) einer selbstgewählten Knechtschaft wird. Denn das ist ja eigentlich das Interessante: Dass persönliche Freiheiten heute eingeschränkt werden ohne dass wir uns dessen gewahr sind.
Das Marketing hat sich die Realität dieser von Byung-Chul Han beschriebenen These längst zunutze gemacht – ohne dass Han das Marketing explizit in seinem Essay erwähnt. Das sog. Inbound-Marketing benutzt dieses „Pull-Prinzip“, bei dem sich der User durch einen längeren Andockungsprozess freiwillig in einen Kunden umwandelt. Oft nach einer Phase von kostenlosen Nutzungen entsteht eine Verbindung zwischen Nutzer und Anbieter (oft Online-Plattformen), die schrittweise zu einem Abonnement-Modell (man könnte auch sagen: Abhängigkeit) führt. Ein Blick ins Marketing hilft oft, um eine Gesellschaft verstehen zu lernen. In einer neoliberalen Welt ist das Marketingbuch das Strategiebuch der sozialen interessengeleiteten Wechselbeziehungen unter uns Menschen.
Personen müssen heute in der Infosphäre selbst am Ball bleiben wollen und zum Kunden werden. Aus intrinsischer Motivation. Nicht die schnelle Werbebotschaft hat ihn oder sie überredet, sondern eine innerlich über einen längeren Zeitraum gewachsene Überzeugung hat dazu geführt, eine Kundenbeziehung eingehen zu wollen. Das Konzept des Inbound Marketings etabliert diese neue Ebene der Kundenorientierung und entspricht einem vernetzten und psychologisch durchdachtem Onlinemarketing (vom Push zu Pull). Die Orchestrierung von Content Marketing, Social Media, SEO überlässt dem Kunden (scheinbar) die Initiative und versucht, einen Kundendialog aufzubauen (Customer Dialogue). Jenseits der in der Management-Literatur oft angepriesenen „neuen Qualitäten“ in der Kundenbeziehung, bei der Kunden zu „Fans“ einer Marke werden und das Glück auf beiden Seiten des Geschäfts vollkommen ist, steht in Wahrheit eine Marketingstrategie, die sich neuesten konsumpsychologischen Erkenntnissen aus der Neuro-Forschung zunutze macht, die auch Byung-Chul Han beschreibt, ohne sie zu nennen.
Die Analyse der Kundenpsychologie war schon immer ein zentraler Baustein des Marketings. Ein wichtiger Aspekt der Produktpolitik war und ist z.B. die ansprechende optische Gestaltung eines Artikels. Nunmehr ist aber alles Information, entmaterialisiert, auch in der Werbung. So führt das Inbound-Marketing die Werbung in eine entmaterialisierte Ära und wurde als psychologisch konzipiertes und multimedial orchestriertes Pull-Marketing entsprechend von dominanten Plattform-Giganten wie Google, Amazon, Uber oder Hubspot entwickelt.
Der Begriff Inbound wurde von Brian Halligan und Dharmesh Shah geprägt, den Gründern von Hubspot und dann schnell von anderen Digitalkonzernen übernommen und perfektioniert. Entsprechend ist das Konzept und überhaupt der gesamte Ansatz auf ebensolche Unternehmen bislang zugeschnitten: auf große, oftmals börsennotierte Dotcom-Unternehmen industrieller Prägung, die ein Massenpublikum ansprechen und mit umfangreichen personellen und finanziellen Mitteln einen Aufbau einer Kundengefolgschaft umsetzen können. Allen Definitionen gemeinsam ist der Gedanke, dass Kunden ein Problem haben, welches sie gelöst haben wollen und freiwillig zu einem Anbieter kommen.
Die Analyse, die Byung-Chul Han in seinem Essay „Undinge“ aus philosophischer Perspektive zusammenfasst, hat sich in den letzten Jahren in der Wirtschaft von der Wandlung des traditionellen Marketings hin zum Inbound-Marketing bildhaft vollzogen. Das klassische Outbound Marketing unterteilte Kunden in Zielgruppen und sprach die einzelnen Gruppen mit unterschiedlichen Monologen an. Hier war der Verkäufer, dort der Kunde. Die Welt war eindeutig. Da hier nur eine Botschaft über das Produkt vermittelt wurde, wurden diese Kunden, die erreicht werden sollen, auch „passive Kunden“ genannt. Aber sie waren immerhin noch Kunden, die wussten, dass sie Kunden waren. Durch die Digitalisierung hat sich auch das Kaufverhalten und die Informationssuche der Konsumenten und Konsumentinnen stark verändert. Aus den passiven Kunden entstehen immer mehr aktive Kunden, die sich bei einem Kauf eines Produkts oder Dienstleistung vorab informieren. Dabei treten sie in Kontakt zu den Unternehmen, um Ihre Informationslücke schließen zu können. In der positiven Lesart verfügen die Kunden heute also über ein Mehr an Freiheit, über Wahlmöglichkeiten, die Möglichkeit des Vergleichs. Aber erliegen wir nicht einem Trugschluss?
Byung-Chul Hans Buch läßt den scheinbar ermächtigten Menschen mit Zweifeln zurück. Sind all jene aktiven Kunden vielleicht nichts anderes als Menschen, die sich in den meisten Fällen ihrer selbstgewählten Abhängigkeit oder Kundschaft nicht bewusst sind? Womöglich ist der angenommene Fortschritt ein Rückschritt in einer Machtbeziehung, die die Klaviatur der psychologischen Beeinflussung nur in feineren Tönen spielt als es das traditionelle Marketing je konnte.
Undinge – Umbrüche der Lebenswelt
Han, Byung-Chul
Ullstein Buchverlage
ISBN: 9783550201257
128 Seiten, gebundenes Buch mit Schutzumschlag
Erschienen am 03.05.2021
22,00 Euro
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Foto: Meisterrat Berlin-Brandenburg e.V.