Herausfordernde Technologien

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„Wer wir sind, wird daran gemessen, was wir aus dem machen, das uns zur Verfügung steht.“ (Vince Lombardi, American-Football-Trainer)

Das bdia Handbuch Innenarchitektur 2023/24 zeigt die Vielfältigkeit, aktuellen Trends und das Gestaltungsniveau der Innenarchitektur in Deutschland. Präsentiert werden 25 ausgewählte Projekte, von privaten Wohnhäusern bis zu öffentlichen Bauten. Die mit Texten, Bildern und Plänen anschaulich gezeigten Projekte werden ergänzt durch drei Fachbeiträge, die sich dem immer wichtiger werdenden Thema der „Digitalen Arbeitswelten“ widmen. Robert Piotrowski reflektiert im folgenden Beitrag über die Herausforderungen, die technologische Entwicklungen mit sich bringen.

Ein Fachbeitrag von Robert Piotrowski

Die Geschichte der Menschheit lässt sich an unseren technischen Fortschritten ablesen – von Steinwerkzeugen und Keilschrift bis hin zu algorithmischen Berechnungen und künstlicher Intelligenz. In unserem digitalen Zeitalter ist die Beschleunigung des technischen Fortschritts oft verwirrend und beängstigend. Das gegenwärtige Tempo des Fortschritts verdeckt die Tatsache, dass Technologie immer für die Entwicklung von Hochkulturen erforderlich ist.

Verlust der Faszination

Kinder sind von allem fasziniert: vom ersten Schneefall, vom Geschmack einer Zitrone oder von der unvermittelten Begrüßung des Nachbarhundes, der sie ableckt. Je älter und reifer wir werden, desto mehr stumpft die Wiederholung von Ereignissen unsere Sinne ab. Der erste Schneefall fasziniert uns nicht mehr, sondern wir ärgern uns darüber, dass er den Wintereinbruch ankündigt, dass wir den alljährlichen Reifenwechsel vergessen haben oder dass man zu spät zu einer wichtigen Sitzung kommt. Die Faszination wird durch Unbehagen, Besorgnis und einen Rückgang unserer Produktivität verdrängt.

Dieses Phänomen setzt sich in der Architektur und Innenarchitektur fort. Wir fragen uns nicht länger, wie ein gotischer Bogen den enormen Kräften standhalten kann, die auf seine behauenen Steinblöcke einwirken, sondern spazieren durch Notre Dame in Paris und fangen flüchtige Eindrücke mit dem Smartphone ein, um sie sofort an Freunde in Los Angeles, Berlin oder Peking zu schicken. Wenn wir uns keine Zeit für eine sorgfältige Betrachtung nehmen, werden wir wichtige Feinheiten übersehen. Fast jeder hat ein Bild von der Kathedrale im Kopf, vor allem von dem durch das jüngste Inferno zerstörten Bauwerk, aber wer erinnert sich schon an die vielfarbigen Verzierungen der verschiedenen Seitenkapellen (Abb. 2) oder an die Anzahl der kleinen Säulen, die die Stützpfeiler des Kreuzgratgewölbes bilden?

Der technische Zauber hinter der Kathedrale und dem Smartphone (und der Kamera, den Computern, den Satelliten und der Software, die das perfekte Erlebnis des Fotografierens und des Instant Messaging zu einer entbehrlichen Nebensache machen) ist so sehr in unseren Alltag eingebettet, dass ihre Komplexität und Magie fast unbeachtet bleiben. Wir verlieren unsere Fähigkeit, kritisch über die Ursprünge und Facetten von Technologien nachzudenken. Dabei verlieren wir auch die Kontrolle über die Beobachtung unserer Umwelt und unsere Entscheidungen.

Die fortgeschrittene Industrialisierung setzt heute Roboter ein, um Gebäude aus 3D-gedruckten Bauteilen zu errichten. Praktisch jede erdenkliche Form kann hergestellt werden, was zu einer überwältigenden Vielfalt an architektonischen Stilen führt und traditionelle Qualitätsstandards obsolet werden lässt. Diese durch die Technologie ermöglichte formale Vielfalt verringert die Faszination für das Gebäude selbst. Nur selten betrachten wir ein Bauwerk eingehend, um seine Entstehung nachzuvollziehen. Umgekehrt steckt hinter den meisten zeitgenössischen Gebäuden keine überzeugende Geschichte mehr.

Woran liegt das? Vielleicht liegt es an der Art der von unsausgewählten Technologie. Einige sind bequem, andere verlangen unsere Anstrengung und Konzentration.

Die Auswüchse ungeheuerlicher Technologie ertragen

Wie komfortabel sollten unsere Technologien sein? Vorherrschend gilt die Auffassung, dass wir unsere Arbeit für alle so mühelos wie möglich gestalten sollten. In dem Maße, in dem wir jede denkbare Aufgabe vereinfachen, erhöhen wir unsere Erwartungen an uns selbst und andere. Anstatt uns von einigen wenigen schwierigen Aufgaben herausfordern zu lassen, betreiben wir Multitasking – wir erledigen eine Unzahl kleiner Aufgaben, die einzeln genommen einfach, aber in ihrer Vielzahl erdrückend sind. Wenn Aufgaben zu leicht sind, verhalten wir uns wie unterforderte Schulkinder, nämlich mürrisch und ständig unzufrieden.

Innenarchitekten sollten ständig die Komfortzone verlassen – wir sollten anspruchsvolle Technologien erforschen, erproben, weiterentwickeln und anwenden. Wir sollten erkennen, wie wichtig diese Technologien sind und wie entscheidend diese für die Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen sind.

Die Beherrschung anspruchsvoller Methoden und Verfahren erfordert Zeit. Sie verlangen konzentrierte Anstrengungen und bergen stets das Risiko des Scheiterns. Gemäß dieser Definition ist eine Geige eine anspruchsvolle Technologie, ebenso wie eine Bratpfanne, ein Computerprogramm oder ein Bleistift. Wenn Menschen wesentliche Lebensinhalte beschreiben, steht die Beherrschung eines anspruchsvollen Werkzeugs oder einer Aufgabe gleich an zweiter Stelle, direkt nach zwischenmenschlichen bedeutsamen Beziehungen.

Wenn uns alle Möglichkeiten stets offenstehen, müssen wir lernen, unsere Faszination zu erkennen und ihr zufolgen. Beim Erlernen neuer Fähigkeiten erleben wir einen kindlichen Zustand der Begeisterung. Die Ungewissheit des Ausprobierens regt die Fantasie an und fördert die intellektuelle Entwicklung.

Einen Schnappschuss mit einem Smartphone zu machen, ist ein Leichtes. Die Aufnahme eines Fotos mit einer Kamera mit festem Objektiv, bei der Brennweite, Blende und Belichtung eingestellt werden müssen, um ein Bildpräzise einzufangen, erfordert Geschick, und ein zufriedenstellendes Ergebnis ist – selbst bei Profis – nicht garantiert. Wenn man sich auf die Beherrschung einer anspruchsvollen Technik konzentriert, blendet man den Lärm des Lebens aus – seine Spannung, sein Chaos, seine scheinbare Dringlichkeit. Für einen kleinen Moment taucht man in eine egozentrische Welt ein, eine Welt ohne unmittelbares oder logisches Narrativ, in der sich aber alles im Gleichgewicht befindet. Es ist eine Welt, in der der erste Schneefall magisch bleibt. Die Erfahrung einer solchen Welt, so vorübergehend sie auch sein mag, ist für die Kreativität unerlässlich.

Menschliche Lösungen

Im Vergleich zu den meisten heutigen Tätigkeiten ist der Prozess des Bauens langsam und methodisch. Das immer schnellere Tempo anderer Lebensaktivitäten steht in starkem Gegensatz zur Geschwindigkeit des Bauens. Es dauert seine Zeit, bis aus Ideen Orte werden.

Zu den Aufgaben des Innenarchitekten gehört es, die physikalischen Eigenschaften eines historischen Bauwerks zu verstehen und Methoden zu entwickeln, die sicherstellen, dass Instandsetzungs- und Renovierungsarbeiten unter Einsatz moderner Technologien der vorhandenen Bausubstanz nicht schaden. Diese Aufgaben erfordern Sorgfalt und Liebe.

Technologien lassen sich bändigen, indem man jede Aufgabe durch den Filter der menschlichen Erkenntnis betrachtet. Bei der Stiftung Schulz in Amorbach haben wir eng mit Ingenieuren und Bauunternehmern zusammengearbeitet, um Lösungen zu entwickeln, die praktisch, effizient und solide ausgeführt sind. Die Einhaltung der strengen Energiestandards war eine Grundvoraussetzung für die Sanierung dieser Gründerzeitvilla. Die innenliegende Dämmschicht erforderte die Montage der wassergefüllten Heizkörper in einem Abstand von 18 cm zur tragenden Wand mittels thermisch getrennter Verankerungen, um die Bildung von Kondenswasser zu verhindern – eine potenzielle Quelle für Schimmelbildung. Die Prüfung der möglichen Produktlösungen vor Ort und die Koordination vier verschiedener Gewerke waren notwendig, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Keine Technologien, die bei diesem Projekt zum Einsatz kamen, konnten den Prozess des Durchdenkens ersetzen, die für solch komplexe Entscheidungen erforderlich sind. Es gibt weder Algorithmen noch BIM-Objekte, die das menschliche Verständnis ersetzen können.

Es bedarf einer bewussten Hartnäckigkeit, um die Auswirkungen unseres Handelns auf unsere Umwelt zu untersuchen. Die von uns wertgeschätzten Gebäude sind die, die im Laufe einer Generation oder eines Lebens fertiggestellt wurden, während diejenigen, die unter Zeitdruck zusammengeschustert wurden, am ehesten verachtet und letztlich beseitigt werden. Obwohl die Bauherren gelegentlich die Dauer eines Bauprozesses beklagen, sind Beschwerden über die hohe Bauqualität nach Fertigstellung eines Projekts selten (Abb. 1, 3). Fundiertes Wissen wird eine Kombination einfacher Lösungen immer übertreffen. Navigieren mit Sachverstand und berechtigtes Selbstvertrauen werden bald zu den am meisten geschätzten Eigenschaften der Innenarchitektin / des Innenarchitekten zählen. Die Misere der gebauten Umwelt ist kein technisches Problem, sondern ein menschliches. Und nur Menschen können menschliche Probleme lösen.

„Lass nie zu, dass das, was Du nicht kannst, das beeinträchtigt, was Du kannst.“ (John Wooden, amerikanischer Basketball-Trainer)

Dieser Beitrag von Robert Piotrowski ist erschienen in:
bdia Handbuch Innenarchitektur 2023/24 (S. 140-143)
Hrsg. bdia bund deutscher innenarchitekten e.V.
Callwey
ISBN: 978-3-7667-2619-3
224 Seiten, Klappenbroschur
Erschienen am 30.05.2023
39,95€

Bestellbar hier

Foto Credits (Callwey):

Abb. 1 (Titelfoto): Stiftung Schulz Bestand – Robert Piotrowski
Abb. 2: Polychromie Notre Dame Paris – Robert Piotrowski klein
Abb. 3: Brigida González
Abb. 4: Coverfoto bdia Handbuch Innenarchitektur, Callwey