Die erste Form der Unfreiheit erfahren wir als politische Unterdrückung, schrieb Peter Sloterdijk, die zweite als Bedrückung durch die Realität, die man zu Recht oder Unrecht die äußere nennt (es könnte noch die Versklavung des Menschen durch falsche Selbstbilder folgen). So richtig aufgefallen ist noch niemandem dabei, dass die beiden primären Unterdrückungen nicht einfach so „da“ sind – sie sind gestaltet, sie folgen einem Design-Plan. Irgendwo gibt es da draußen immer eine Gruppe von Menschen, die überlegen, wie sie Varianten von Schmerz produzieren können, um die Hölle auf Erden zu schaffen.
Theo Deutingers „Handbook of Tyranny“ – ein Buch voller Infografiken und Rankings, die das Schlechte und Brutale in der Welt illustrieren – legt den Finger in die Wunde. Es sendet mit seinen winzigen piktogrammatischen Darstellungen gepulste Stimulationssignale direkt auf das Augenlid. Alles, was für uns abstrakt, weit weg und undeutlich war, ist jetzt klar: die missbrauchte Macht, die öffentlichen Enthauptungen im Fußballstadion, das Steinigen, das Strangulieren, der Mauerbau mit Stacheldraht oder nicht zuletzt das Unwirtlichmachen der Städte durch defensives Design, wenn Parkbänke so gestaltet werden, dass sie Obdachlosen keinen Schlafplatz mehr bieten oder Taubenspikes Vögel abwehren.
Auch das Tyrannische, so könnte man Deutingers Buch zusammenfassen, kann das Ergebnis eines Designprozesses sein.
Lasst uns die Welt zu einem schlechteren Ort machen. So wie tagesaktuelle Opferzahlen in laufenden Kriegen nicht das Leid der einzelnen „gefallenen“ jungen Männer oder die Trauer ihrer Familien einfangen können, so wenig ist es der akademischen Politikwissenschaft möglich, die verschleierte Macht des negativen Designs sichtbar zu machen. Design verstanden als angeordnete, beauftragte und damit zielgerichtete kreative Planung und Gestaltung von Vorrichtungen oder Prozessen, die nichts Gutes, sondern ausschließlich Schlechtes intendieren. Die Infografiken des „Handbook of Tyranny“ erzeugen seltsamerweise, obwohl sie umgearbeitete Statistiken sind, emotionale Vorstellungen im Kopf, die unmittelbar vom Körper selbst her beeinflusst scheinen, ähnlich wie Phosphene und andere eidetische Bilder.
Theo Deutinger erinnert uns daran, dass nicht nur die Privatwirtschaft Designaufträge erteilt, sondern auch der Staat. Man darf Donald Trump in diesem Zusammenhang dankbar sein, dass er mit seinen Absichten nie hinterm Berg hielt. So besaß Trump zwar stets mehr Eloquenz (facundia) als Weisheit (sapienta), aber als er sein Prestigeprojekt, den Mauerbau an der Grenze zu Mexiko (immerhin auf einer Länge von 650 Kilometern) anging, tat er dies mit umfassender Öffentlichkeitsinformation und Transparenz. In den meisten Fällen der hostile architecture werden Pläne unter Ausschluss der Öffentlichkeit konzipiert (Hinrichtungszellen, Gefängnisse, Schlachthöfe). Trump zeigte sich dagegen sogar öffentlich lernfähig: Als sich herausstellte, dass die drei Meter hohe Mauer nicht hoch genug war, um Flüchtlinge aufzuhalten, wurde die Mauer, im Sinne eines designprozessoptimierenden Learning-Loops, auf neun Meter aufgestockt.
Es sind aber nicht immer nur Diktatoren und zwielichtige Potentaten, die als Auftraggeber für repressive Gestaltung in Frage kommen. Wer konzipiert zum Beispiel Gefängniszellen? Im gegenwärtigen Europa sind es hauptsächlich gesetzliche Vorschriften. Die Schlafzellen haben in Deutschland eine Grundfläche von 3,8 Quadratmetern, während die übrigen meist bedrückenden und farblosen Normalzellen über 9 Quadratmeter Grundfläche verfügen. Die Bodenfläche muss nicht das einzig entscheidende Kriterium sein, sagen uns höhere Gerichte. So kann eine Zelle mit einem Luftraum von 19,25 Kubikmeter trotz einer Bodenfläche von 6,11 Quadratmeter „gerade noch hinnehmbar“ sein.[1] Für die Gefängnisarchitektur stellt sich jedenfalls die Frage, welchen Grad an Lebensqualität man denn in derartigen Räumen imaginieren darf, wo eigentlich keine Aufenthaltsqualität gewünscht ist? Was das angeht, relativiert die weltweite Ranking-Übersicht der Haftraumgrößen diese Fragen im „Handbook of Tyranny“, wenn man vor Augen geführt bekommt, dass in Albanien Hafträume von 3 qm die Regel sind und im Iran sogar auf 2 Quadratmeter fallen können. Die rauschhafte, energiegeladene Inszenierung von grafischen Vektoren verfehlt ihre Wirkung nicht: das Kompendium lehrt, wie der Mensch, eigentlich frei geboren, sich selbst in Ketten legt. Man muss sich noch nicht einmal einer dreisten Lüge bedienen, wie es Jean Cocteau einmal formulierte, um die Zeitgenossen von einer Wirklichkeit höherer oder tieferer Ordnung zu überzeugen. Das vermag auch eine grafisch aufbereitete Statistik, wenn sie einen tatsächlichen Sachverhalt pointiert einfasst.
Ich traf Theo Deutinger an einem Septembermorgen im Direktorenhaus, vor dessen offenem Balkon die Enten über die Spree segelten und den Eindruck wohltuender Abgeschiedenheit verstärkten. Eine Metakognition als Distanzierung vom eigenen Leiden war so möglich. Theo Deutinger verriet mir, dass er etwas enttäuscht war, dass die ursprünglich von ihm mit dem Buch adressierten Zielgruppen – NGOs und Politik – keinerlei Reaktion gezeigt hätten. Weder schienen die Menschenrechtsorganisationen den Sinn der Visualisierung von Menschenrechtsthemen erkannt zu haben, noch traten Personen aus dem Dunstkreis der Politik hervor, um den österreichischen Designer (der zwischen dem Salzburger Land und Amsterdam pendelt) oder stellvertretend womöglich die ganze Peergroup der Designerinnen und Designer als solche einladen zu wollen, sich für die Gestaltung der politischen Zukunft in Stellung zu bringen. Das Buch kursiert in Kunstkreisen, in Architekturbüros, liegt auf Tischen der Kuratoren. Sozial engagierte Designentwürfe, so stellt man immer wieder fest, schaffen es kaum auf einen Radar, der außerhalb der kulturellen Sphäre liegt.
Politische Repression bleibt ein Stress-System, das so lange Erfolge vorweisen wird, wie die Unterdrückten sich eher für Stressvermeidung (Gehorsam, Ergebung, Dienstbereitschaft) entscheiden als für Auflehnung und Revolution – und solange sich die Designdisziplin nicht aus ihrer selbstgewählten Unmündigkeit erhebt.
Text von Pascal Johanssen
[1] [OLG Frankfurt 3 Ws 957/03 (StVollz) NStZ-RR 2004, 29]. Allerdings sind auch noch vielerorts 5 Quadratmeter große Hafträume anzutreffen, sogenannte „Schlauchzellen“. Eingangs erwähnt werden Gedanken von Peter Sloterdijk, Stress und Freiheit, Berlin 2011.
Handbook of Tyranny
Theo Deutinger
Mit einem Essay von Brendan McGetrick
Design: Theo Deutinger
Lars Müller Publishers
ISBN: 978-3-03778-719-9
172 Seiten
Hardcover, englisch
Erschienen im Jahr 2023
35,00 CHF
Das Buch ist hier erhältlich.
Foto-Credits:
Grafiken: Theo Deutinger
Cover- und Autorenfoto: Lars Müller Publishers