In ihrer Werkstatt in Nürtingens Altstadt verbindet die Textilkünstlerin Tiina Kirsi Kern handwerkliche Präzision mit künstlerischem Denken – ihre Werke lassen sich dabei weder eindeutig dem Kunst- noch dem Designbegriff unterordnen.
Im Werkstatthaus Haus Vier entstehen Kerns gewebte Objekte und textile Arbeiten, die durch ihre Materialwahl, Reduktion und Eigenwilligkeit auffallen.
Aktuell liegt ihr Fokus auf einem besonderen Material: den Magnetbändern aus alten Audio- und Videokassetten. Was früher als Speichermedium für Klang und Bild diente, wird nun durch textile Techniken wie das Handweben in neue, sinnlich erfahrbare Flächen und Objekten verwandelt. Die Auseinandersetzung mit diesem Material ist auch ein Nachdenken über Vergänglichkeit und Wertschätzung. Kern ist ein bewusster Umgang mit den Textilien wichtig – und eine Arbeitsweise, die Haltung, Zeit, Geduld und Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt stellen.
Die künstlerische Ausbildung an der Freien Kunstakademie Nürtingen, das regionale textile Erbe sowie die finnischen Wurzeln der Gestalterin prägen ihre Arbeit gleichermaßen. In Finnland ist die Verbindung von Kunst, Handwerk und Alltagskultur tief verankert – ein Verständnis, das sich auch in den Arbeiten von Kern widerspiegelt: reduziert, durchdacht, ruhig – und voller Resonanz.
Was bieten Sie Ihren Kunden? Was suchen Kunden (aus Ihrer Sicht) bei Ihnen?
Ich biete künstlerische und kunsthandwerkliche Arbeiten in textilen Techniken, die sich zwischen Experiment am Material, Nachhaltigkeit und Ästhetik bewegen. Derzeit liegt mein Schwerpunkt auf dem Upcycling von Audio- und Videokassetten – ein Material, das stark mit Erinnerungen und Nostalgie aufgeladen ist, aber auch besondere Eigenschaften besitzt, die ich herausarbeite. Ich bringe dieses Material mittels textiler Techniken – vor allem am Handwebstuhl – in eine neue, zeitgemäße Form.
Meine Kund:innen suchen bei mir das Unkonventionelle, das Sinnliche, aber auch das Reflektierte. Viele sind neugierig und gleichzeitig fasziniert. Sie interessieren sich für traditionelle Produktionsprozesse und finden in meinen Arbeiten gestalterische Antworten zu Fragen der Nachhaltigkeit und Ressourcenbewusstsein. Sie schätzen die Kombination aus künstlerischem Anspruch, handwerklicher Präzision und einer gestalterischen Sprache, die in meinen Arbeiten sichtbar wird.
Was können Sie besser als andere? Oder bescheidener gefragt: Haben Sie bzw. Ihr Unternehmen eine Art Alleinstellungsmerkmal oder besondere Kenntnisse, die ggf. selten sind?
In meiner professionell ausgeführten Arbeit am Handwebstuhl bin ich einerseits der Tradition verbunden und arbeite andererseits mit einem zeitgemäßen Zugang zu Materialien, aktuell vor allem aus dem Bereich des künstlerischen Upcyclings. Das Arbeiten mit Magnetband von Audio- und Videokassetten ist nicht nur technisch herausfordernd, sondern auch inhaltlich vielschichtig: Es berührt Themen wie Erinnerungskultur und Wertewandel.
Was mich dabei besonders macht, ist die Fähigkeit, mit diesen Materialien sinnlich erfahrbare, reduzierte und zugleich poetische Werke mit handwerklichem Können zu schaffen. Es ist diese Verbindung aus konzeptueller Tiefe, materialbasierter Gestaltung und einem klaren gestalterischen Ausdruck, die meine Arbeit unverwechselbar macht.
Ist das, was Sie tun, typisch für Ihre Region? Prägt das regionale Umfeld Sie und Ihre Tätigkeiten?
Die Region, in der ich arbeite, war einst ein Zentrum der Textilproduktion: Weben, Färben und später Strickwarenfabriken prägten das wirtschaftliche Leben. Diese Geschichte ist zwar nicht mehr sichtbar, aber das handwerkliche Erbe wirkt für mich als stiller Hintergrund weiter – als Bewusstsein für Material, Technik und Präzision.
Gleichzeitig bin ich beeinflusst von meinen finnischen Wurzeln. Die regelmäßigen Aufenthalte in Finnland haben meine Haltung gegenüber Kunsthandwerk und Textilkunst geprägt. Dort ist die Wertschätzung für handgemachte Dinge, für klare Gestaltung und die Verbindung von Alltagskultur und Ästhetik spürbar – sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum. Diese nordische Perspektive fließt stark in meine Arbeit ein.
Ein wichtiger Ort meiner Entwicklung war außerdem die Freie Kunstakademie Nürtingen, an der ich mein Handwerk gelernt habe. In der Verbindung aus persönlicher Herkunft, lokaler Verwurzelung und einem offenen künstlerischen Umfeld entsteht eine Arbeitsweise, die zwar nicht „typisch“ für die Region ist, sich aber bewusst auf das Beste aus beiden Welten stützt.
Gibt es etwas, für das Ihre Region bzw. Ihr Lebensort besonders bekannt ist?
Was meinen Lebensort besonders macht, ist die ungewöhnlich lebendige alternative Kunstszene – vor allem gemessen an der Größe der Stadt. Es gibt hier eine dichte, engagierte Gemeinschaft von Künstler:innen, Gestalter:innen und Kulturschaffenden, die unabhängig arbeitet und gut vernetzt ist. Vieles entsteht aus Eigeninitiative: in Ateliers, Projekträumen, kleinen Ausstellungen oder offenen Werkstätten.
Ein Ort ist die Freie Kunstakademie Nürtingen sowie der Kunstverein Nürtingen. Von hier gehen immer wieder neue Impulse aus, neue Initiativen und Kooperationsprojekte entstehen. Es gibt hier ein Umfeld abseits des Mainstreams, welcher Freiraum für künstlerische Prozesse bietet und in dem ich mich auch persönlich engagiere.
Wo gehen Sie hin, wenn Sie entspannen wollen?
Wenn ich entspannen oder den Kopf freibekommen möchte, gehe ich gern spazieren – am Neckar entlang, hinauf auf einen der Hügel mit Blick auf die Schwäbische Alb. Diese Wege bieten mir Weite, Ruhe und den nötigen Abstand, um Gedanken sortieren zu können oder einfach nur da zu sein. Die Natur in der Region ist vielseitig und unmittelbar zugänglich – das empfinde ich als großes Geschenk.
Gleichzeitig finde ich Inspiration und Entspannung in der alternativen Kulturszene: bei kleineren Ausstellungen, Konzerten, Lesungen oder offenen Atelierabenden. Es sind genau diese nicht-kommerziellen Formate, die für mich besonders reizvoll sind – sie entstehen aus Leidenschaft, aus Haltung und aus dem Wunsch, etwas gemeinsam zu bewegen. Diese haben oft eine nachhaltigere Wirkung als große Events.
Beides – Natur und freie Kultur – gehört für mich untrennbar zum Leben und Arbeiten in dieser Region.
Können Sie ein Restaurant aus Ihrem Umfeld besonders empfehlen?
In Nürtingen gibt es viele gute Restaurants und Cafés, sodass mir die Wahl schwerfällt. Gleich vor der Tür finden sich eine Reihe von Lokalen mit sehr gutem Angebot an Speisen und Getränken. Besonders schön ist es im Sommer unter der Kastanie des Nürtinger Kellers: Eine Atmosphäre wie in einem anderen Land, dazu eine hochwertige, kreative Küche. In der charmant, schwäbischen Weinstube um die Ecke gibt es köstliche, regionale Gerichte. Bistro (La Cantina), Bodega (Vino Vino) und Kaffees finden sich ebenfalls vor meiner Werkstatttür.
Nur ein paar Schritte weiter liegt der Stadtbalkon, direkt am Neckar, mit einem vielfältigen Angebot. Die kulinarische Dichte in diesem kleinen Radius ist wirklich bemerkenswert – und ein weiterer Grund, warum ich mich hier so wohlfühle.
Gibt es einen speziellen Einzelhandelsladen, den Sie empfehlen können, den es nur in Ihrem Ort (oder in der Region) gibt?
In Nürtingen gibt es nicht nur einen gut sortierten Secondhand-Laden. Einer davon, Artifundus, hat sich auf Kunst, Kunsthandwerk und allerlei Nippes spezialisiert. Ein wunderbarer Ort zum Stöbern, Staunen und Wiederentdecken – charmant, persönlich und mit einem feinen Gespür für Dinge, die eine Geschichte erzählen. Ich finde es großartig, wenn auf diese Weise der Kreislaufgedanke unterstützt wird – nachhaltig, aber ohne moralischen Zeigefinger, sondern mit Freude am Besonderen auch Skurrilen.
Darüber hinaus gibt es in der Stadt mehrere kleine Galerien für Kunst und Kunsthandwerk. Diese Mischung aus lokalem Einzelhandel und freier Kunstszene macht für mich den Reiz des Ortes aus – und bietet immer wieder neue Impulse.
Haben Sie das Gefühl, dass die Politik mehr für Sie bzw. Ihre Branche tun könnte? Wenn ja, was?
Ja, ich habe das klare Gefühl, dass mehr politische Unterstützung nötig ist – sowohl im finanziellen als auch im gesellschaftlichen Sinne. Gerade im Bereich des freien Kunsthandwerks fehlt es oft an langfristiger Förderung und an echter Wertschätzung. Viele von uns arbeiten mit hohem gestalterischem Anspruch – aber unter wirtschaftlich prekären Bedingungen.
Dabei leisten Kunst- und Kulturschaffende einen unverzichtbaren Beitrag: Wir sind mitverantwortlich für das Schöne im Leben. Für das, was inspiriert, Räume gestaltet, Erinnerungen trägt, Gemeinschaft schafft. Diese kulturelle Leistung wird jedoch oft unterschätzt – sie bleibt unsichtbar, solange sie nicht konkret „verwertbar“ erscheint. Das führt dazu, dass unser Tun vielfach als bloße Liebhaberei wahrgenommen wird – und nicht als das, was es auch ist: harte, ausdauernde Arbeit mit großer gesellschaftlicher Relevanz.
Ein Beispiel: Viele Ausstellungen, Veranstaltungen und künstlerische Initiativen entstehen durch ehrenamtliches Engagement. Wir investieren nicht nur Zeit und Energie in die künstlerische Arbeit selbst, sondern auch in die Organisation, Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung – oft ohne jede finanzielle Entlohnung.
Es braucht eine grundsätzliche Anerkennung der kulturellen Leistung, die täglich erbracht wird. Kunsthandwerk ist kein dekorativer Nebenschauplatz – sondern ein lebendiger Teil gesellschaftlicher Kultur.
Wie ist die Ausbildungssituation in Ihrem Bereich? Finden Sie leicht Nachwuchs? Was vermissen Sie?
Die Ausbildungssituation im Bereich Weberei ist besorgniserregend. Die handwerklichen Fähigkeiten werden in Deutschland nur noch an zwei Orten systematisch vermittelt. Das zeigt, wie sehr diese traditionsreiche Technik in den Hintergrund gedrängt wurde – obwohl sie kulturell wie gestalterisch nach wie vor hohes Potenzial hat.
Ein weiteres Problem ist, dass der Beruf heute kaum noch als auskömmlich gilt. Junge Menschen, die sich für textile Gestaltung interessieren, finden oft wenig realistische Perspektiven, um davon leben zu können. Es fehlt an struktureller Förderung, an beruflicher Anerkennung – und an gesellschaftlichem Bewusstsein dafür, wie wertvoll diese Fähigkeiten sind.
Nachwuchs zu finden ist entsprechend schwierig – nicht, weil es an Talent oder Interesse mangelt, sondern weil es an Rahmenbedingungen fehlt, die eine Zukunft im Handwerk ermöglichen. Ich vermisse zeitgemäße Ausbildungskonzepte, die künstlerisches Handwerk mit neuen Formen der Vermarktung, Vermittlung und Sichtbarkeit verbinden – und jungen Menschen Mut machen, diesen Weg überhaupt einzuschlagen.
Welches Schulfach sollte es geben, das es noch nicht gibt?
Ich würde mir ganz klar ein Schulfach wünschen, das den Bereich Kunsthandwerk in all seinen Facetten ernst nimmt – vom Arbeiten mit Holz, Ton, Metall bis hin zur Weberei. Ein Fach, das Materialverständnis, handwerkliches Können und gestalterisches Denken vermittelt – und das nicht nur theoretisch, sondern in einer echten Werkstatt-Atmosphäre.
Das, was manche Jugendkunstschulen heute noch anbieten – mit Raum zum Ausprobieren, Vertiefen, auch Scheitern – wäre aus meiner Sicht ein großer Gewinn für alle Kinder und Jugendlichen. Gerade in einer Welt, die zunehmend digital und abstrakt wird, brauchen wir Orte, an denen mit den Händen gearbeitet, gedacht und gefühlt werden darf.
Es geht nicht nur um Talentförderung, sondern um ein grundlegendes Verständnis von Form, Material, Prozess und Wert. Und um die Erfahrung, dass Gestaltung etwas ist, das im Alltag verankert sein darf – nicht als Luxus, sondern als Teil von Bildung und Leben.
Wenn Sie für ein Jahr Bürgermeister/in Ihrer Stadt oder Landrat/Landrätin in Ihrem Landkreis wären: Was würden Sie einführen oder ändern?
Wenn ich für ein Jahr Bürgermeisterin wäre, würde ich dem Kunsthandwerk einen festen, sichtbaren Platz in der Stadt geben – einen offenen Raum für Workshops, Begegnung und Bildung. Mein Vorschlag: ein „Werkhaus des Handwerks & der Gestaltung“ – zentral gelegen, zugänglich für alle Generationen und offen für Kooperationen mit Schulen, Kunstinitiativen und Kreativschaffenden aus der Region.
Dort könnten traditionelle Techniken und zeitgenössische Ansätze gleichermaßen ihren Platz finden. Besucher:innen könnten selbst aktiv werden, Einblicke in Prozesse gewinnen oder einfach staunen. Ein solcher Ort wäre nicht nur Werkstatt, sondern auch Impulsgeber für kreative Stadtentwicklung.
Ein besonderes Anliegen wäre mir der internationale Austausch: Gemeinsam mit den Partnerstädten Nürtingens würde ich ein kunsthandwerkliches Austauschprogramm initiieren. Unter dem Motto „Gestaltung verbindet“ könnten jährlich wechselnde Projekte, gemeinsame Ausstellungen oder Künstler:innen-Residenzen entstehen – ein Dialog über Länder- und Materialgrenzen hinweg, der Menschen, Techniken und Kulturen zusammenbringt.
Wenn Geld oder andere Abhängigkeiten keine Rolle spielen würden: Wo würden Sie am Liebsten leben?
Sicherlich genau hier – in Nürtingen. Ich schätze die Landschaft, die Nähe zum Neckar, die freie Kunstszene, die sich hier über die Jahre entwickelt hat. Es gibt ein Gefühl von Zugehörigkeit, das nicht beliebig ist.
Was ich mir wünschen würde? Etwas mehr Raum – vor allem für meine Werkstatt. Und mehr Sichtbarkeit für das, was ich tue. Nicht im Sinne von Werbung, sondern als Anerkennung und Platz im öffentlichen Leben. Ein Umfeld, in dem Kunsthandwerk als selbstverständlicher Teil der Kultur wahrgenommen wird – nicht am Rand, sondern mittendrin.
Wenn äußere Abhängigkeiten keine Rolle spielten, würde ich diesen Ort vielleicht einfach noch etwas weiter formen – freier, offener, mit Raum für Austausch. Aber der Kern: der darf gern bleiben, wie er ist.
Tiina Kirsi Kern
Haus Vier
Schlossberg 4
72622 Nürtingen
Mobil: +49 (0) 176 620 40 253
WEBSEITE: Haus Vier